Peter Piolot: Weil wir auf dem Arbeitsmarkt eine sehr starke Zertifikatsgläubigkeit haben. Früher war es das Diplom, heute ist es der Master oder das Staatsexamen – man muss unbedingt das entsprechende Papierchen vorzeigen können. Das führt bei den Studierenden dazu, zu glauben, dass von ihrem Abschluss ihre gesamte Zukunft abhängig ist.

Das ist aber nicht in jedem Job so.

Nein, das muss man differenzieren. Es gibt den einen Bereich von Berufsfeldern, in dem man bestimmte Abschlüsse und Zertifikate haben muss – Lehrer, Ärzte oder Ingenieure, die man erst Brücken bauen lässt, sobald sie nachgewiesen haben, dass sie das können. Das sind Felder mit ganz eindeutigen Zugangsvoraussetzungen und in denen die Notwendigkeit besteht, die Abschlüsse zu haben. Dann gibt es aber eine ganze Reihe von Berufen, wo die Situation völlig anders ist. Da kommt es häufig mehr darauf an, was der Einzelne kann, welche Arbeitsproben er vorlegen kann, welchen Persönlichkeitstyp er hat und ob er in ein Team passt. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch da ein großer Druck bei den Studierenden entsteht. Auch in dem Fall entsteht ein Erwartungsdruck von Freunden, von Bekannten oder dem Umfeld, das vielleicht besser vorankommt. Das ist das weite Feld der sozialen Erwartungen.

In Ihrem Ratgeber "Don't Panic! Studienabbruch als Chance" schreiben Sie, das Thema Studienabbruch habe derzeit Konjunktur. Wie kommt das? Ist der Druck an Unis zu hoch geworden?

Was die Faktenlage betrifft, ist es eher etwas besser geworden: In den letzten Jahrzehnten sind in vielen Fachrichtungen die Abbrecherquoten deutlich zurückgegangen. Genau gegenläufig ist aber die Entwicklung, dass das ganze Thema mehr Aufmerksamkeit erfährt. Das geschieht durch die Politik. Es fällt den staatlichen Institutionen schwer, sich einzugestehen, dass manchmal 50 Prozent der Studierenden den Abschluss gar nicht schaffen. Dann wird direkt der Ruf laut, ob da nicht die Bildungspolitik versagt habe und ob da wohl nicht alles getan wurde.
Sie arbeiten in der Studienberatung. Zu welchem Zeitpunkt ihres Studiums wenden sich Studierende an Sie, weil sie mit dem Gedanken spielen, das Handtuch zu werfen?

Es tauchen da alle Varianten auf. Es gibt den Fall, in dem die Studierenden sehr schnell merken, dass sie sich das jeweilige Studium ganz anders vorgestellt und deutlich das falsche Fach gewählt haben. Besonders häufig ist das ein Problem bei Fächern, die man aus der Schule nicht kennt, etwa bei Rechtswissenschaften oder Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden machen dann recht früh einen Fachwechsel und gehören zu den unproblematischen Fällen. Das stellt für die Biografie überhaupt kein Problem dar. Der zweite und schwerwiegendere Fall sind die Studierenden, die schon mehrere Semester hinter sich gebracht haben, aber hoffnungslos hinterherhinken.
Warum ist das der schwerwiegendere Fall? In solchen Fällen sollte ein Abbruch doch ziemlich eindeutig die richtige Entscheidung sein.

In dieser Situation steigt der Stresspegel, die Resultate werden noch schlechter und die Studierenden laufen Gefahr, in einer Spirale zu landen: Je mehr Arbeit investiert wurde, desto schwerer fällt es, den Verlust zu realisieren und aus der Hochschule auszusteigen. So versuchen diese Studierenden, das Studium noch irgendwie zu beenden – auch wenn das aussichtslos ist.
Es ist schwierig zu unterscheiden, ob man einen Hänger hat oder ob einem ein Fach wirklich nicht liegt, oder?

Richtig, das ist eine schwierige Gradwanderung. Und für die gibt es keine simple Berechnungsgrundlage, um das eine vom anderen zu unterscheiden. Am besten beobachtet man sich über ein paar Wochen hinweg kritisch selbst. Und wenn man längere Zeit unter dem Studium leidet, dann sollte man was unternehmen.
Wie lange muss man denn leiden?

Das kann niemand sagen. Wenn man schnell feststellt, dass einen jede Vorlesung langweilt, ist die Sache klar. Ansonsten sind körperliche Stresssymptome eindeutige Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Wenn man immer wieder ins Grübeln kommt, zu viel oder zu wenig isst, dann sind das Warnzeichen, dass man dringend über seine Studienwahl nachdenken und etwas unternehmen muss.
Wenn man mit seinem Studium unzufrieden ist und abbrechen will – wer kann dann helfen?

Was die institutionellen Angeboten angeht, ist die Fakultätsberatung im Fachbereich eine gute Hilfe. Wenn man sich unsicher ist über seinen Leistungsstand und inhaltliche Probleme hat, kann der Fachberater am besten einschätzen, ob das Studium noch schwerer wird oder man über den Berg ist. Wenn es um die Themen Fachwechsel, Ausstieg und Berufseinstieg geht, dann sind die zentralen Studienberatungen eine gute Anlaufstelle. Die haben zum Teil auch eine psychologische Beratung, ansonsten wird die psychologische Beratung von den Studentenwerken angeboten.
Es wird immer wieder von der Notwendigkeit einer Kultur des Scheiterns gesprochen. In der Startup-Szene mag sie sich allmählich etablieren – aber wie weit sind wir noch davon entfernt, dass das Scheitern flächendeckend wirklich okay ist?

Das Scheitern in der Startup-Szene und im Studium kann man meiner Meinung nach schlecht miteinander vergleichen: In einem Startup lässt sich die ökonomische Zukunft viel schlechter einschätzen als sich der Verlauf eines Studiums einschätzen lässt. Durch Infobroschüren oder Schnuppervorlesungen können die Abiturienten oder Fachwechsler vorab detailliert Informationen einholen. Das heißt aber nicht, dass das Scheitern im Studium deshalb schlimmer wäre und man sich nicht verwählen darf. In den Einzelgesprächen, die ich führe, versuche ich zu vermitteln, dass es ein Anzeichen von Stärke ist, sich einzugestehen, dass eine Studienwahl nicht die richtige Wahl. Ich spreche mit Abbrechern darüber, dass sie sich nicht als Versager sehen, sondern die Haltung entwickeln: Ich fange ab morgen etwas Neues an. Wir arbeiten da eng mit der Arbeitsagentur, mit der IHK und HWK zusammen. Denn je schneller man etwas Neues findet, desto schneller ist man über die Krisensituation hinweg.